Bewusstwerdung, Öffnung, Toleranz: Documenta 14

Documenta 14 in Kassel, Hans Haacke (geb. 1936, Köln). "Wir (alle) sind das Volk." Blog Kulturklitsche

Kunst jetzt! Die 14. Documenta zeigt, warum genau jetzt eine Abwendung von der Akademie, von der Kunst der weißen Männer, der Elite wünschenswert und nötig ist. Vor 100 Jahren haben Künstler solch eine Abwendung begrüßt –  jetzt ist es wieder einmal so weit, und das zu recht. In Museen hängen seit Jahrzehnten oftmals immer wieder die selben renommierten Künstler. Ausstellungskonzepte zeigen mal hier einen neuen Kniff, mal dort eine neue museale Pädagogik, um Interessierten den kunsthistorischen Kontext der Kunst des XY näher zu bringen. Langsam wachen die Museen der Welt aber auf, und erkennen, dass sie sich noch mehr – nämlich ganz neu öffnen müssen, um im neuen Jahrtausend nicht zu verstauben. Und damit ist nicht das Internet und die Interaktivität mittels Social Media gemeint. Diese sind lediglich Hilfsmittel für folgende Öffnung: Die ganze Welt, jedes Land der Erde, jeder selbst ernannte Künstler, kann potenziell wertvolle Kunst für alle erschaffen – und kann auf der ganzen Welt gesehen und anerkannt werden. Frischer Wind. Einfach mal über den elitären Tellerrand hinaus schauen. Das lohnt sich, wie die Documenta 14 zweifelsohne beweist. Die Documenta zeigt alle vier Jahre zeitgenössische Kunst in einer weltweit bedeutenden Tragweite, dieses Jahr in Kassel vom 10. Juni bis zum 17. September 2017 und neu dazu – auch das ist eine Sensation – in Athen vom 8. April bis zum 16. Juli 2017.

Sehenswert: Neue Neue Galerie

Mein Weg in Kassel führt mich zuerst zum Parthenon der Bücher der argentinischen Künstlerin Marta Minujín. Die Säulen eines griechisch anmutenen Tempels in Kassel bestehen aus gespendeten Büchern. Dieser setzt ein Zeichen gegen das Verbot von Texten und die Verfolgung ihrer Verfasser und ist zum meist fotografierten Werk der Documenta geworden. Dann geht es für mich zur Neue Neue Galerie an der Neuen Hauptpost. Hier sitzen zahlreiche junge Leute auf der Wiese vor dem Veranstaltungsort. Die Neue Neue Galerie ist etwas zwischen einem ehemaligen Parkhaus und einem verlassenen Bürogebäude. Im Erdgeschoss gibt es große Flächen und damit Platz genug für großformatige Kunst. Als Erstes sehe ich ein Wandgemälde von Gordon Hookey namens „Murriland!“. Der australische Aborigine und Künstler hat einen Teil der Geschichte seines Landes auf der Wand zusammengefasst, er nutzt bunte Farben, Symbole und Text, um seine Sicht auf die Historie zu inszenieren. Känguruhs zum Beispiel verwendet er als klassisches Symbol für Australien, da die Tiere vielmehr mit dem Land verbunden seien, als die Nicht-Aborigines Bewohner des Kontinents, so Hookey. Die dargestellten weißen Männer auf seinem Wandgemälde sind also die Fremdeinwirkungen. In der Nähe auf einem Tisch liegen zahlreiche Ausgaben der „Third Text. Critical perspectives on contemporary art & culture“ zur Einsicht.

Ausflug zu anderen Ethnien

Weiterhin begegnet mir ein Vorhang aus Rentierschädeln und Metalldraht namens „Pile o‘ Sápmi“ von Máret Ánne Sara, ein Remake von Édouard Manets berühmten „Frühstück im Grünen“ von Beatrice González, Fotografien von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen deutscher Abstammung im Zweiten Weltkrieg, eine Holz- und Messingskulptur aus Thailand von Arin Rungjang, Fotografien von einem Pferd vor einem Reiterdenkmal, eine Fotografie von einem Mann vor einem gigantischen Haufen aus Büffelschädeln namens „Pile o‘ Sápmi“ von Máret Ánne Sara und zahlreiche Videoinstallionen (siehe Foto-Slideshow). Die archaischen Schädel saugen mich in eine Welt des Kolonialismus. Es sind Außenseiterkünstler, die hier ihre Sicht auf die Fremd-Dominierung ihrer Heimat werfen. Zudem zieht mich eine meterlange Videoinstallion über asiatische und ethnologische Kunst in ihren Bann. Gesichter, Köpfe anderer Kulturen überblenden sich, dazu bespielt der Sound der Videoinstalltion die ganze Seite des Raumes. Da kann ich minutenlang zu schauen.

Performance

Einprägsam sind auch die Performances „Staging: Solo“ von Maria Hassabi. Hierfür platziert sie verschiedene Darsteller in bunten Gewändern auf dem Boden liegend, um sich in ausgestreckten, bizarren Körperhaltungen alle paar 30 Sekunden nur minimal zu bewegen, wie Motor-angetriebene, absurde Schaufensterpuppen. Der eine Darsteller ist im Erdgeschoss auf dem Betonboden platziert, eine weitere Darstellerin ist im höheren Stockwerk anzutreffen. Dazu gehört „Staging: Lighting Wall #1“ der Künstlerin Maria Hassabi, eine Wand voller gleißender Show-Lichter, die in einer Ecke die Betrachter unerbittlich direkt anstrahlen.

Kriegswelten

Das auf der Documenta 14 immer wiederkehrende Thema Krieg berührt Daniel García Andújar mit „The Disasters of War/ Trojan Horse“. Ein hohes Gebilde aus zusammen gesteckten Holzstangen zu hohlen Kisten geformt, oben auf eine Gallionsfigur in Attacke-Stellung, innerhalb der Kisten ein paar Menschenskulpturen und ganz vorne unten eine Pferdefigur erinnern an die hinterhältige Falle des trojanischen Pferdes aus der griechischen Mythologie (siehe Foto-Slideshow). Auch Algirdas Šeškus trägt mit sechzig „Fotografien“ (1975 – 85) dem Thema Krieg bei. Er sagt dazu:

Wenn man in Vilnius aufgewachsen ist, hat man überall auf den Straßen den Krieg gesehen, der gerade zu Ende gegangen war. […] Später blieb noch ein großer Teil des Krieges in den Menschen zurück, sogar noch bis heute. Der Zweite Weltkrieg hat für uns bis 1990 gedauert, als die sowjetische Besatzung endete. Ich glaube, ich habe mich immer nach einem Moment des Waffenstillstands gesehnt. (Quelle: Zugehöriges Werktitelschild der Documenta)

Auf der Toilette hat jemand „Art (is) dead. #Life“ auf die Klowand geschrieben. Im oberen Geschoss gibt es eine Performance auf einer Art Laufsteg, „31 Schreibmaschinenarbeiten und Durchschläge“ (1970er – 1980) von Ruth Wolf-Rehfeldt, die teilweise wie Aliensprache aussehen und welche die Künstlerin „signs fiction“ nannte. Diese Schreibmaschinenkunst hat ihre Ursprünge in der konkreten Poesie und Bilddichtung der Fluxus-Bewegung der 1960er Jahre. Sehr einprägsam ist auch ein Sechskanal-Digitalvideo namens „Realism“ von 2017 von Artur Żmijewski. Darin zeigt er die sportlichen Übungen eines Beinamputierten, mal mit, mal ohne seine Beinprothese.

Nicht verpassen: Stillgelegter U-Bahn-Schacht

Schon allein der Besuch der Neuen Neuen Galerie hätte mich sehr inspiriert zurück gelassen. Mit den sogenannten Glaspavillons schaue ich mir einen weiteren, aber kaum interessanten Documenta-Ort an. Viel sehenswerter ist da der eigentlich geschlossene, aber für die Documenta 14 geöffnete U-Bahn-Schacht direkt am Hauptbahnhof. Die Videoinstalltion „The Couse of Empire“ von Michel Auder aus dem Jahr 2017 wirkt sehr stark im dunkelsten Ende des Schachts mit einem Bilder-Mix von Krieg, Trump, antiker Kunst, Zugvögeln, Facebook-Screenshots und zerstörten Häusern. Der ganze U-Bahn-Schacht an sich ist für mich schon als Denkmal Kunst für sich. Der Ort reizt mich zu atmosphärischen schwarz-weiß Fotografien.

Türen zu anderen Welten werden mit der Documenta 14 aufgestoßen. Viel wird über das vom Kurator Adam Szymczyk für die Documenta 14 ausgerufene „unlearning“ bzw. „aneducation“ diskutiert. Der Head of Education der Documenta 14, Sepake Angiama, sagte dazu in der „C&“ Zeitschrift (Platform for international art from african perspectives):

Unlearning means considering forms of knowledge that have been suppressed and excluded from the „canon“.

Damit ist eigentlich schon alles gesagt. Zur Documenta 14 gehen und sich zu öffnen, ist die Empfehlung.